Zurü

Das christliche Menschenbild

"Eines schönen Nachmittags kam Eva am Baum der Erkenntnis vorbei.[...] Da hörte sie ein leises Zischen hinter sich, und als sie sich umschaute, sah sie etwas Grünfunkelndes aus dem dunklen Laub hervorlugen. Es war die Schlange. Eva fürchtete sich nicht, denn alle Tiere, die sie kannte, waren zahm und fromm, und sie hatte noch von keinem ein Leid erfahren. Sie wollte schon weitergehen, da rief die Schlange: "Eva! Eva!" "Wer ruft mich?" fragte Eva. "Ich rufe dich", sagte die Schlange, "denn ich möchte dich etwas fragen." Eva wunderte sich,, dass die Schlange reden konnte. Um so neugieriger trat sie näher, und nun sah sie den mächtigen, gewundenen Leib im Geäst, er funkelte golden und grün und wie von tausend Edelsteinen übersät. "Sprich!" sagte Eva, "Ich werde dir antworten, so gut ich kann." Die Schlange wiegte ihr flaches Haupt und sprach: "Ist es möglich, dass es euch verboten ist, von den Früchten des Gartens zu essen?" "Wer hat dir das erzählt?" erwiderte Eva. "Wir dürfen von allen Früchten essen, soviel wir wollen. Nur von dem einen Baum hier dürfen wir nicht essen." Die Schlange schloß die Augen und senkte den Kopf, als wäre sie tief betrübt. "Hab' ich's mir doch gedacht!" sagte sie. "Gerade die köstlichste Frucht ist euch verboten. Warum nur?" Eva schwieg einen Augenblick. Dann antwortete sie: "Sie ist uns verboten, weil jeder, der von ihr ißt, sterben muß." "Sterben!" rief die Schlange und bäumte sich auf und wiegte sich hin und her, als lachte sie. "Das hat euch wohl Gott gesagt? Ach, ihr armen, gutgläubigen Menschlein! Keineswegs müßt ihr sterben, wenn ihr von dieser Frucht eßt. Schau sie dir doch an!" Und die Schlange teilte das Laub, daß eine herrliche Frucht zwischen den dunklen Blättern sichtbar wurde, sie war goldfarben und rosig, und Eva glaubte noch nie eine schönere gesehen zu haben. Da neigte sich die Schlange an ihr Ohr und zischte: "Sieht sie aus, als ob sie den Tod brächte? Nein, nicht wahr - ? Nicht den Tod birgt diese Frucht, sie birgt vielmehr das ewige Leben und die Wahrheit. Doch diese zu erkennen ist euch Armen verboten, denn Gott weiß: Wenn ihr davon eßt, werdet ihr sein wie er. Die Augen werden euch aufgehen, und ihr werdet erkennen, was gut und was böse ist. Ihr werdet allwissend sein wie er." [Eva und auch Adam essen die Frucht.] Doch in dem Augenblick, in dem sie den letzten Bissen genommen hatten, geschah etwas: Die Sonne verfinsterte sich, ein kalter Hauch blies durch den Garten, das warme, goldene Abendlicht wurde bleigrau und beinahe violett. Eva blickte Adam an und Adam Eva - und plötzlich sahen sie: sie waren nackt. Nackt! Das waren sie immer gewesen, aber noch nie hatten sie gefröstelt wie jetzt, und mit einem Male war es ihnen unerträglich, so voreinander zu stehen, bloß und ohne Hülle, und sie stoben auseinander und versteckten sich voreinander in den Büschen.[...] Der Herr wusste längst, was geschehen war und er sprach: "Einen Garten habe ich euch gegeben, in dem ihr glücklich und sorglos leben konntet. Doch jetzt führe ich euch hinaus in die Wüste. Den Tod wollte ich von euch fernhalten, vom Baum des Lebens habe ich euch zu essen gegeben. Doch ihr habt vom Baum der Erkenntnis gegessen und wolltet sein wie ich, ewig und allwissend!"1

"Die Geschichte von Adam und Eva macht deutlich, dass Gott die Freiheit des Menschen ernst nimmt. Gott greift nicht ein, wenn der Mensch tut, was gegen Gottes Willen ist. Das ist bis heute so. Gott selbst ist gebunden an seine Schöpfungsordnung. Der Mensch ist verantwortlich für sich und seine Welt. Gott hat den Menschen Grenzen seiner Freiheit deutlich gemacht und ihn gewarnt, sie zu überschreiten und sein Gebot zu mißachten. Gott erschuf den Menschen zu seinem Ebenbild, aber auch Fehler gehören zum Menschsein dazu. Doch Gott gibt den fehlbaren Menschen nicht auf. Er liebt die Menschen so sehr, daß er seinen Sohn Jesus Christus sendet, um sie zu retten."2