Zurück zur HauptseiteKant - Regeldeontologische EthikKohlbergSartre - Handlungsdeontologische EthikBentham - UtilitarismusAristipp - Erfolgsorientierte EthikEpikur - Erfolgsorientierte EthikMill - Der Utilitarismus

Sartre

Jede Situation ist einmalig, allgemeine moralische Prinzipien sind unanwendbar

Um Ihnen ein Beispiel zu geben, welches erlaubt, die Verlassenheit besser zu verstehen, führe ich den Fall eines meiner Schüler an, der mich unter folgenden Umständen aufgesucht hat: Sein Vater lebte in Zwiespalt mit seiner Mutter und neigte übrigens zur Kollaboration, sein ältester Bruder war bei der deutschen Offensive 1940 getötet worden; und jener junge Mann wünschte in seinem etwas primitiven, aber hochherzigen Gefühl, ihn zu rächen. Seine Mutter lebte allein mit ihm, sehr betrübt durch den halben Verrat seines Vaters und durch den Tod ihres ältesten Sohnes, und fand nur Trost an ihm.

Dieser junge Mann hatte in dem gegebenen Augenblick die Wahl, entweder nach England zu gehen und sich in die Freien Französischen Streitkräfte einzureihen - das heißt, seine Mutter zu verlassen - oder bei seiner Mutter zu bleiben und ihr leben zu helfen. Er gab sich gut Rechenschaft davon, daß diese Frau nur durch ihn lebte und daß sein Verschwinden - und vielleicht sein Tod - sie in die Verzweiflung stürzen würde. Er gab sich auch Rechenschaft, daß im Grunde, konkret gesprochen, jede.

Handlung, die er aus Rücksicht auf seine Mutter unternahm, ihre Entsprechung haben werde in dem Sinne, daß er ihr zu leben verhalf, während jede Handlung, die er unternahm, um wegzureisen und zu kämpfen, eine zweideutige Handlung war, die im Sande verlaufen und zu nichts dienen könnte. Zum Beispiel, indem er nach England reiste, konnte er unbestimmte Zeit in einem spanischen Lager verbleiben, wenn er über Spanien fuhr; er konnte in England oder Algier ankommen und in ein Büro versetzt werden, um Schreibarbeiten zu machen. Folglich befand er sich angesichts zweier ganz verschiedener Typen von Handlungen: einer konkreten, unmittelbaren, die sich aber nur an ein Individuum richtete; oder aber einer Handlung, die sich an ein unendlich weiteres Ganzes, eine nationale Gemeinschaft wendete, die aber eben deswegen zweideutig war und unterwegs unterbrochen werden konnte.

Und gleichzeitig zögerte er zwischen zwei Typen von Moralen. Auf der einen Seite eine Moral der Sympathie; der individuellen Hingabe, auf der anderen Seite eine umfassendere Moral, die aber von einer fragwürdigeren Wirksamkeit sein konnte. Es mußte zwischen den beiden gewählt werden. Wer konnte ihm helfen, zu wählen? Die christliche Lehre? Nein. Die christliche Lehre sagt: Seid barmherzig, liebet euren Nächsten, opfert euch für die andern, wählt den rauhen Weg usw. Aber welcher ist der rauheste Weg? Wen soll man lieben wie seinen Bruder: den Kämpfer oder die Mutter? Welches ist die größere Nützlichkeit: jene unbestimmte, in einer Gesamtheit zu kämpfen, oder jene sichere, einem genau bestimmten Menschen leben zu helfen? Wer kann a priori darnber entscheiden? Niemand. Keine aufgezeichnete Moral kann es sagen. Die kantische Moral erklärt: Behandle die anderen nie als Mittel, sondern als Zweck. Sehr gut; bleibe ich bei meiner Mutter, so behandle ich sie als Zweck und nicht als Mittel, aber ich laufe Gefahr, diejenigen als Mittel zu behandeln, die um mich her kämpfen; und umgekehrt, wenn ich mich denen anschließe, die kämpfen, so behandle ich sie als Zweck und laufe dementsprechend Gefahr, meine Mutter als Mittel zu behandeln.

Wenn die Werte unbestimmt sind und immer zu weit gespannt für den bestimmten und konkreten Fall, den wir eben betrachten, so bleibt uns nichts, als uns auf unseren Instinkt zu verlassen. Das hat jener junge Mann versucht zu tun; und als ich ihn damals sah, sagte er: Das, was im Grunde wichtig ist, ist das Gefühl; ich sollte das wählen, was mich wirklich in eine bestimmte Richtung drängt. Fühle ich, daß ich meine Mutter genügend liebe, um ihr alles andere - meinen Wunsch nach Rache, meinen Tatendrang, meinen Trieb nach Abenteuern - zu opfern, so bleibe ich bei ihr. Wenn im Gegenteil ich fühle, daß meine Liebe für meine Mutter nicht genügend ist, so gehe ich. Aber wie den Gradwert eines Gefühls bestimmen? Was macht den Gradwert seiner Liebe zu seiner Mutter aus? Genau die Tatsache, daß er für sie da blieb. Ich kann wohl sagen, ich liebe den und den Freund genügend, um ihm die und die Summe Geldes zu opfern; aber ich kann es nur sagen, wenn ich es tatsächlich getan habe. Ich kann sagen: ich liebe meine Mutter genügend, um bei ihr zu bleiben - wenn ich bei ihr geblieben bin. Den Gradwert dieser Zuneigung kann ich erst bestimmen, wenn ich eine Tat vollbracht habe, die ihn bestätigt und definiert. Da ich aber von diesem Gefühl verlange, meine Handlung zu rechtfertigen, so finde ich mich in einen circulus vitiosus hineingezogen. Andererseits hat Gide sehr gut gesagt, daß ein Gefühl, welches gespielt, und ein Gefühl, das gelebt wird, zwei fast ununterscheidbare Dinge sind: Entscheiden, daß ich meine Mutter liebe, indem ich bei ihr bleibe, oder eine Komödie aufführen, die bewirkt, daß ich bei meiner Mutter bleibe - ist nahezu dieselbe Sache.

Mit anderen Worten gesagt: das Gefühl baut sich auf aus den Handlungen, die wir vollziehen; demnach kann ich es nicht befragen, um mich von ihm leiten zu lassen. Was wiederum bedeutet, daß ich weder in mir selber den authentischen Zustand suchen, der mich zum Handeln treibt, noch einer Moral die Begriffe entlehnen kann, die mir erlauben, zu handeln.

Wenigstens, werden Sie sagen, hat der junge Mann einen Professor aufgesucht, um ihn um Rat zu fragen. Aber, wenn Sie sich z. B. bei einem Priester Rat holen, so haben sie den Priester selbst gewählt, so wußten Sie im Grunde schon mehr oder minder, was er Ihnen raten würde. Anders gesagt, einen Ratgeber wählen heißt, wieder sich selbst binden. Der Beweis dafür ist, daß, wenn Sie Christ sind, sie sagen werden: Fragen Sie einen Priester um Rat. Nun gibt es aber kollaborationistische Priester, attentistische Priester, Widerstands-Priester.

Welchen wählen? Und wenn der junge Mann einen Widerstands-Priester oder kollaborationistischen Priester wählt, so hat er selbst schon über die Art des Rates entschieden, den er empfangen wird. Somit, indem er zu mir kam, wußte er die Antwort, die ich ihm erteilen würde, und ich hatte ihm nur eine Antwort zu geben: Sie sind frei, wählen Sie, das heißt erfinden Sie. Keine allgemeine Moral kann Ihnen angeben, was Sie zu tun haben. Es gibt keine Zeichen in der Welt ...

Quelle:
Rudolf Bensch und Werner Trutwin (Hrsg.), Philosophisches Kolleg 3, Ethik, Düsseldorf, 1977, S85 ff.